Jeanette Schocken

 

Die einzige Fotografie, die wir von Jeanette Schocken (1883–1942) haben, zeigt uns das Gesicht einer jungen Frau, die lächelt. Je länger man das Bild betrachtet, desto mehr tritt das Lächeln zurück: Im Dunkel der Augen, im gesenkten Lid über dem Blick, in den Winkeln des Mundes werden Nachdenklichkeit und Distanz spürbar. 

“Meine Mutter war eine sehr tapfere Frau
mit sehr starkem inneren Glauben”,

schrieb ihre jüngste Tochter Hilde Mann, als sie die Erlaubnis gab, den Namen ihrer Mutter mit dem Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur zu verbinden.

Wir haben diese Frau, ihren Namen und den Schein eines Lächelns ihrer Augen gewählt, um darin die Begründung zu finden für einen Literaturpreis, der mit einem Augen-Blick in der Geschichte dieser Stadt und ihrer Bürger eng verbunden ist.

Als Jeanette Schocken in Bremerhaven lebte, war dies kein Ort besonderen literarischen Interesses. Der Name Schocken stand hier nicht zuerst Salman Schocken, den bibliophilen Sammler, Verleger und Mäzen, sondern – seit 1903 – für den Namen seines Bruders, Julius Schocken, der zwei Kaufhäuser in Bremerhaven führte. 

Der Wohlstand, der hieraus erwuchs, war für Julius Schocken und seine Ehefrau Jeanette die Grundlage eines für beide selbstverständlichen sozialen Engagements, an das sich einige Bremerhavener im November 1988 – allerdings erst dann – aus gegebenem Anlass zu erinnern vermochten.

Am 10. November brannte die Synagoge in Bremerhaven. Dies war das Zeichen zur Flucht für all jene jüdischen Mitbürger, die bis dahin geglaubt hatten, dem Geist Goethes und Beethovens und der Kraft ihrer Medaillen aus dem Ersten Weltkrieg noch vertrauen zu dürfen.

Jeanette Schocken, deren Ehemann 1934 gestorben war, hätte ebenso wie andere Mitglieder ihrer Familie jetzt noch fliehen können. Sie tat es nicht. Sie hatte eine erwachsene, schwerkranke Tochter, die nicht nur auf die Einrichtung einer Klinik, sondern auch auf die persönliche Zuwendung ihrer Mutter psychisch angewiesen war.

Am 17. November 1941 wurde Jeanette Schocken gemeinsam mit ihrer Tochter Edith Elkeles und anderen Bremerhavener und Bremer Juden deportiert. Sie war 58 Jahre alt. Der Transport ging in das Ghetto von Minsk. Mutmaßlich im Vernichtungslager Maly Trostinez wurde sie 1942 ermordet.

Manfred Ernst